Ludwig Erhards Vermächtnis: Ein Kompass für moderne Wirtschaftspolitik? Roland Koch im Interview
Roland Koch spricht im Interview darüber, wie Erhards Vision einer Sozialen Marktwirtschaft auch in der heutigen Wirtschaftspolitik wichtige Impulse geben kann. Welche Grundsätze Erhards sind heute besonders relevant, und wie könnten sie aktuelle Herausforderungen meistern?
Ludwig Erhard gilt als Vater der Sozialen Marktwirtschaft. Welche seiner Prinzipien halten Sie heute für besonders relevant, und inwieweit prägen diese Ihre eigene politische oder wirtschaftliche Haltung?
Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft sind zeitlos, sie schaffen die Chance für wirtschaftlichen Wohlstand auf der Basis von Menschenwürde und Freiheit. Der Unterschied zu damals liegt darin, dass die Welt am Boden war, während wir aktuell vor Herausforderungen stehen, die den Willen und die Fähigkeit zu neuen Anstrengungen bei Beibehaltung der Prinzipien erfordern.
Der Staat ist Schiedsrichter, nicht Dirigent, und die Vielzahl der Köpfe, die dem Markt zur Verfügung stehen, um Wohlstand zu erzeugen, sind die wahren Innovatoren. Wir brauchen auch heute Mut in der Politik, um Strukturreformen anzustoßen. Diesen Mut wird die Wirtschaft zu nutzen wissen, um Wohlstand und Wachstum zu fördern, wovon sowohl die Wirtschaft, die Gesellschaft als auch der Staat profitieren. Dieses Vertrauen in die kreativen Kräfte und das Misstrauen in einen vermeintlich allwissenden Staat prägen auch mich. Das unbedingte Streben nach einer freiheitlich verfassten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Suche nach einem freiheitlichen Weg in der jeweiligen konkreten Situation, das sehe ich als zeitlos gültige Lösung im Sinne Erhards.
Welche Parallelen sehen Sie zwischen den wirtschaftspolitischen Herausforderungen und Debatten zur Zeit Ludwig Erhards und denen von heute? Welche seiner Grundsätze könnten genutzt werden, um die aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen anzugehen?
Wir stehen auch aktuell mitten in einer Transformation. Insbesondere beschäftigt uns das „weg von der Kohlendioxid-Ökonomie“. Da läuft erkennbar Vieles nicht glatt, manche unken schon von einem Scheitern des Umbaus. Aus einer verfahrenen Situation heraus auf eine sichere, beständige Form des Wohlstandes hinzuarbeiten, ohne in staatlichen Dirigismus zu verfallen: Das wäre aus meiner Sicht die vorrangige Herausforderung.
Ein zentraler Aspekt bleibt die Balance zwischen wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Verantwortung. Während damals die europäische Integration in ihren Anfängen stand, geht es heute darum, den Binnenmarkt zu vertiefen und die EU als wettbewerbsfähigen Kontinent zu positionieren. Dies zeigt sich auch in den Vorschlägen von Mario Draghi, von denen ich nicht alle teile. Diese beiden Punkte sind vergleichbar. Man muss den Mut aufbringen, den Ludwig Erhard hatte, um den aktuellen Herausforderungen zu begegnen. Es erfordert Tatkraft, Verantwortungsbewusstsein sowie Bereitschaft zur Veränderung, um Innovation und Fortschritt zu fördern.
In seinen Memoiren betont Erhard die Bedeutung einer soliden Haushaltsführung sowie klarer Wettbewerbsregeln. Wie bewerten Sie diese Prinzipien im Kontext der heutigen Diskussionen über die Schuldenbremse, notwendige Investitionen und die Stabilität des Finanzsektors?
Es hapert seit geraumer Zeit an beidem. Ein solider Haushalt und klare Wettbewerbsregeln lassen sich nur mit sehr viel Wohlwollen – quasi in homöopathischen Ansätzen – finden. Beispiel Haushalt: Das Gezerre innerhalb der amtierenden Bundesregierung über den Haushalt 2025 lassen eine eindeutige, klare Perspektive vermissen. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts befindet sich die Bundesregierung in einer Art Paralyse. Folge: Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sinkt. Die Regierung muss der Versuchung widerstehen, notwendige Investitionen über Schulden zu finanzieren – Investitionen sollten aus dem laufenden Haushalt bestritten werden. Die Diskussion über die Aufweichung der Schuldenbremse ist eine Nebelkerze, die mangelnden Mut und Verantwortungswillen offenbart. Handlungsfelder gibt es reichlich: Subventionsabbau, Straffung staatlicher Leistungen, Verwaltungsreform, Stabilität für den Finanzmarktsektor, um nur einige zu nennen.
Erhards Politik basierte auf der Idee der „Wirtschaft der Mitte und der Verständigung“. Wie beurteilen Sie seine Ansichten im Hinblick auf die heutigen Diskussionen über die „Politik der Mitte“ und den Einfluss populistischer Tendenzen?
Die Politik der Mitte ist eine Politik jenseits der Extreme. Angesichts aktueller Herausforderungen, wie dem Mangel an Wohnungen, Strom und Pflegeplätzen, der zu steigenden Preisen führt, sollten marktwirtschaftliche Lösungen Vorrang haben. Diese Strategie stärkt die Mitte und kann die Ränder schwächen, die die Polarisierung vorantreiben, statt nach Verständigung zu suchen. Eine Politik der Verständigung ist heute notwendiger denn je, um Populismus entgegenzuwirken. Ludwig Erhards Ansatz, auf Dialog und Kompromiss zu setzen, ist in der gegenwärtigen politischen Landschaft von großer Bedeutung. Dabei ist Mut zur Freiheit unerlässlich.
Erhard setzte sich konsequent für ein geeintes Europa mit offenen Märkten ein. Inwiefern bieten seine Ideen Lösungsansätze für die aktuellen wirtschaftspolitischen Konflikte innerhalb der EU?
Der gemeinsame Markt ist eine Errungenschaft, doch wir dürfen nicht stehen bleiben. Es gibt noch großes Potenzial, den Binnenmarkt weiter zu öffnen. In Zeiten der Geoökonomie, in denen die Globalisierung stagniert, sollten wir den EU-Binnenmarkt vertiefen. Doch noch immer bestehen zu viele nationale Barrieren, etwa im Dienstleistungshandel oder, durch den Ukrainekrieg besonders in den Fokus gerückt, beim Thema Energie. Ein echter EU-Energiemarkt, der Skaleneffekte nutzt, existiert noch nicht. Es gibt auch keinen Binnenmarkt für Telekommunikation und besonders schmerzhaft ist die fehlende Banken- und Kapitalmarktunion. Hier bestehen erhebliche Potenziale für eine gemeinsame, auch global wettbewerbsfähige Marktstruktur.
Für Erhard war die Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstands entscheidend für die Stärke der deutschen Wirtschaft. Welche Maßnahmen erachten Sie als notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit von KMU in Deutschland im globalen Wettbewerb langfristig zu sichern?
Die Ordnungspolitik fördert den Wettbewerb und verhindert Monopole. KMUs spielen dabei eine Schlüsselrolle. Deutschland unterscheidet sich beispielsweise von Frankreich durch weniger Konzernstrukturen; unsere Wirtschaft ist stärker vom Mittelstand geprägt. Die zentralen Probleme, die mir aus Gesprächen genannt werden, sind Bürokratie, Abgabenlast und Energiekosten – das bremst die KMUs. Die Rahmenbedingungen müssen hier verbessert werden. Auch Unternehmensgründungen sollten stärker gefördert werden, denn sie stellen den Mittelstand von morgen dar. Zudem sind Freiberufler in einer digitalen Dienstleistungswirtschaft von wachsender Bedeutung. Gerade beim Thema Scheinselbstständigkeit müssen wir sensibler vorgehen, denn Freiberufler bieten einen echten Mehrwert für die wirtschaftliche Dynamik.
Erhard war überzeugt davon, dass ein freier Markt sowohl Wohlstand als auch soziale Gerechtigkeit fördern kann. Sehen Sie in der heutigen Marktwirtschaft Abweichungen von dieser Idee, und wenn ja, wie könnten diese möglichen Korrekturen durch Ihre Partei nach der Bundestagswahl 2025 behoben werden?
Das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft besteht in der Kombination von wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Verantwortung. Ludwig Erhard setzte sich für einen pflichtbewussten Bürger ein, der nicht als „sozialer Untertan“ lebt, sondern sein Leben aus eigener Kraft gestaltet. Ein wirtschaftlich unabhängiger Bürger kann seine gewonnene Freiheit nutzen, um sich auf vielfältige Weise zu engagieren. Die Ideen, die wir in der Ludwig-Erhard-Stiftung formulieren, sind überparteilich in der demokratischen Mitte verankert.
Die Politik ist aufgerufen, Chancen zu schaffen und nicht dadurch zu zerstören, dass man Regulierungen an die Stelle funktionierender Märkte setzt. Um es klar auszudrücken: Die Politik übernimmt sich, wenn sie die Wirtschaft steuern will. „Wirtschaft“ ist viel zu komplex, um sie durch Regulierungen auf einen wie auch immer gewünschten Kurs zu bringen. In der momentanen Situation sehe ich die Kompetenz dazu eher nicht in der aktuellen Regierungskonstellation.
Da ich – auch als Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung – nach aktuellem demoskopischem Stand davon ausgehe, dass die CDU wahrscheinlich den nächsten Bundeskanzler stellen wird, spricht einiges dafür, dass es zu Korrekturen kommt.
Roland Koch hat am 22.Oktober 2024 im Rahmen der Buchvorstellung der Kanzler-Memorien in Berlin einen Impulsvortrag gehalten sowie an der anschließenden Diskussionsrunde teilngenommen.