22.10.2024 | Ludwig Erhards Vermächtnis: Einblicke in seine Memoiren und ihre Relevanz heute. Prof. Dr. Schlie im Interview

Prof. Dr. Ulrich Schlie, Direktor des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Herausgeber des neuen Buches Ludwig Erhard Erfahrungen für die Zukunft. Meine Kanzlerzeit (19631966)in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V. 

©CASSIS

„Die Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft, so wie sie Ludwig Erhard verkörpert und vertreten hat, stünde Deutschland gerade in der gegenwärtigen Lage gut an.“ Prof. Dr. Urlich Schlie

Herr Prof. Dr. Schlie, Sie haben die Memoiren Ludwig Erhards für die Öffentlichkeit aufbereitet. Warum erscheinen die Memoiren von Ludwig Erhard erst jetzt, fast 50 Jahre nach seinem Tod, und wie kamen Sie dazu, diese zu veröffentlichen?  

Das Manuskript ist mir bei meinen Recherchen im Nachlass von Hans (Johnny) Klein, dem damaligen Ghostwriter von Ludwig Erhard, in die Hände gefallen. Ich habe mich dann auf die Suche nach dem Manuskript im Nachlass von Ludwig Erhard gemacht, bin fündig geworden und habe die Authentizität des Dokuments überprüft. Es ist zu einem Zeitpunkt entstanden, als Ludwig Erhard schon gesundheitlich stark angeschlagen war. Erhards einstiger Büroleiter und Hüter der Erinnerung an den Vater des Wirtschaftswunders, Karl Hohmann, hat dann aber dafür gesorgt, dass die geplante Veröffentlichung auf Eis gelegt worden ist. Anschließend ist das Manuskript in Vergessenheit geraten.   

Gab es in den Memoiren Aspekte, die Sie persönlich überrascht oder besonders beeindruckt haben und die möglicherweise das öffentliche Bild von Erhards Persönlichkeit verändern?

Zunächst ist überraschend, dass Ludwig Erhard überhaupt Memoiren veröffentlicht hat. Sie sind zehn Jahre nach seinem Abgang als Bundeskanzler entstanden und zeigen, wie wenig er die Umstände seines Rücktritts – er fühlte sich insbesondere von seinen Parteifreunden im Stich gelassen – verwunden hatte. Diese Enttäuschung ist dem Manuskript noch ganz stark anzumerken. Der Erhard, der uns in den Memoiren entgegentritt, ist ganz bei sich selbst: ein politischer Kämpfer, ein Mann mit Grundsätzen und festen politischen Überzeugungen, der über ein klares Bild verfügte, wohin Deutschlands Weg zu gehen habe. Wenn wir uns heute an Ludwig Erhard erinnern, dann steht der Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft, der Prediger des Wohlstands für alleim Vordergrund. Doch wir müssen zu dem ganzen Bild viel stärker, als wir dies bislang getan haben, auch den Bundeskanzler Erhard hinzurechnen. Trotz des kurzen Zeitraums von drei Jahren hat er vieles erreicht – die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel, die Friedensnote von 1966, die europäische Zusammenarbeit -, was es verdient, im Gedächtnis der Nation haften zu bleiben. 

Die Memoiren von Ludwig Erhard geben einen tiefen Einblick in seine politischen Prinzipien und seinen Führungsstil. Wie würden Sie Erhards Charakter beschreiben, und wie bewerten Sie diese Eigenschaften im Vergleich zu aktuellen politischen Führungspersönlichkeiten? 

Erhards Stärke beruhte auf der Einheit von Worten und Taten. Er lebte, was er sagte, und er glaubte, was er predigte. Er wollte als Volkskanzler gesehen werden, als politischer Philosoph und Freund der einfachen Leute. Seine Stärke war seine Authentizität. Man nahm ihm seine Botschaften ab. Generell ist die Tendenz erkennbar, dass es immer weniger Charaktere in der Politik gibt. Das Thema Vertrauen in die Politik, das viele Menschen heute verloren haben, braucht Politikertypen wie Ludwig Erhard. Dies ist zugleich die beste Methode, um demokratische Stabilität zu garantieren. 

Wie beurteilt Erhard in seinen Memoiren seine Zeit als Kanzler sowie die Umstände, die zu seinem politischen Rücktritt führten? 

Ludwig Erhard verstand sich als Modernisierer. Er hatte eine Vorstellung von Deutschlands künftigem Weg, und er wollte die Menschen auf die Höhe der Zeit bringen. Erhard hatte quasi im Alleingang die Wahlen im September 1965 eindrucksvoll gewonnen. Danach ging es abwärts. Das zweite Kabinett Erhard sollte nicht mehr richtig Tritt fassen. Erhard agierte am Ende glücklos und wurde auch Opfer von parteiinternen Intrigen. Die Umstände seines Abgangs hat er nie verwunden.  

Ludwig Erhard beschrieb in seiner ersten Regierungserklärung seine Vision einer Politik der Mitte und der Verständigung. Welche zentralen Elemente umfasst dieser Begriff in Erhards Verständnis von Politik, und inwieweit ist dieses Konzept Ihrer Meinung nach heute noch relevant?

Es war im Grund das Konzept, das mit dem etwas missverstandenen Begriff Formierte Gesellschaftsogleich in den politischen Schlagabtausch geraten ist. Ludwig Erhard verkündete 1965 das Ende der Nachkriegszeit. Er verstand sich als Aussöhner und wollte mit einem auf Ausgleich, Existenzsicherung und Ermunterung von Freiheiten gerichteten Programm den Deutschen seiner Zeit eine Perspektive aufzeigen. Freiheit und Verantwortung statt Selbstverwirklichung und Überbürokratisierung, das ist ein Programm, das auch heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.

Ihre Recherchen zeigen, dass Ludwig Erhard erst 1968 in die CDU eintrat, also nach seiner Zeit als Parteivorsitzender, Wirtschaftsminister und Bundeskanzler. Wie erklären Sie seinen späten Parteieintritt und welche Bedeutung hat dieser späte Parteieintritt für die Beurteilung seiner politischen Legitimität? 

Das ist in der Tat kurios und kann nur aus der Persönlichkeit von Ludwig Erhard erklärt werden. 1949 warb die CDU mit dem Slogan Wenn Professor Erhard der CDU sein Vertrauen schenkt. Dies entsprach im Grunde auch dem Selbstverständnis von Ludwig Erhard. Er war der Überzeugung, in seinem Leben so viel für die CDU getan zu haben, dass er der Frage der Parteimitgliedschaft keinerlei Bedeutung beigemessen hat. Er ist dann erst eingetreten, nachdem er den Bundesvorsitz niedergelegt hatte und von einem wachsamen schwäbischen Kassenwart vergattert wurde, Mitgliedsbeiträge seit 1949 nachzuzahlen. Dies ändert nichts daran, dass Ludwig Erhard zur Geschichte der CDU mit gleichem Recht und Anteil dazugehört wie Gründungskanzler Konrad Adenauer.

Wenn Ludwig Erhard heute leben würde, wie würde er die heutige Wirtschaftspolitik beurteilen, und welche seiner Prinzipien zur Sozialen Marktwirtschaft könnten helfen, die gegenwärtigen wirtschaftlichen Herausforderungen besser zu bewältigen? 

Er würde Robert Habeck sicherlich genauso die Leviten lesen wie er dies 1976 mit Kurt Biedenkopf getan hat. Die Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft, so wie sie Ludwig Erhard verkörpert und vertreten hat, stünde Deutschland gerade in der gegenwärtigen Lage gut an.    

 

Prof. Dr. Ulrich Schlie hielt im Rahmen der WPCD-Veranstaltung zur Buchvorstellung der Kanzler-Memorien am 22. Oktober 2024 in Berlin einen Impulsvortrag. Einen Rückblick zur Veranstaltung finden Sie hier.