06.05.2025 | „Sicherheit hat viele Dimensionen – und jede einzelne ist heute strategisch relevant“
S.E. Jan Tombiński, Geschäftsträger a. i. der Republik Polen, über die Herausforderungen und Prioritäten der polnischen EU-Ratspräsidentschaft 2025
Wie kann Europa in geopolitisch unsicheren Zeiten sicherer und wirtschaftlich widerstandsfähiger werden? S.E. Jan Tombiński, Geschäftsträger a. i. der Republik Polen, gibt im Interview mit dem WPCD Einblicke in die Ziele der polnischen EU-Ratspräsidentschaft. Unter dem Motto „Security, Europe“ setzt Polen klare Prioritäten: eine geopolitisch handlungsfähige EU, wirtschaftliche Eigenständigkeit und der Schutz vor hybriden Bedrohungen. Tombiński betont, wie wichtig Resilienz, Diversifizierung und ein starker Binnenmarkt für Europas Zukunft sind – und warum Erweiterungspolitik strategische Bedeutung hat.

„Polen setzt auf eine EU, die sowohl wirtschaftlich als auch militärisch handlungsfähig ist.“
S.E. Jan Tombiński, Geschäftsträger a. i. der Republik Polen
Polen hat die EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2025 mit dem Leitmotiv „Security, Europe“ übernommen. Wie definiert Polen diesen Begriff im Kontext der EU-Politik?
Seit der russischen Aggression gegen die Ukraine im Jahr 2014, und insbesondere seit dem massiven russischen Überfall der Ukraine von 2022, spricht man viel über die militärische Sicherheit. Dabei hat die Sicherheit viele Dimensionen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat gezeigt, wie viel Bedeutung der Energiesicherheit zukommt; er hat gezeigt, dass eine nicht gut durchdachte Energiepolitik mancher Länder und ihre fehlende Diversifizierung gravierende Folgen haben können. Durch die Coronavirus-Pandemie wurden die Schwächen der europäischen Gesundheitspolitik, aber auch die Schwächen der EU-Wirtschaft bei der Diversifizierung der Lieferketten offengelegt.
Die Ernährungssicherheit vieler der ärmsten Länder der Welt wurde wiederum durch die russischen Blockaden beim Export des ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer gefährdet. Der von Russland geführte hybride Krieg, der die Mitgliedstaaten der EU durch organisierte irreguläre Migration destabilisieren sollte, macht einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen notwendig und verdeutlicht die gewachsene Rolle der inneren Sicherheit. Vor diesem Hintergrund liegt es uns nicht nur an der Stärkung unserer Verteidigungsbereitschaft durch steigende Ausgaben für Militärzwecke, durch Ertüchtigung unserer Rüstungsindustrie und durch Verbesserung unserer Verteidigungsfähigkeiten, sondern auch an der Förderung der europäischen Wirtschaftsautonomie. Diese Ziele können durch eine Diversifizierung der Handelsbeziehungen erreicht werden, aber in erster Linie durch den Ausbau des Einheitlichen Binnenmarktes sowie den Abbau von Hindernissen, die seine Entwicklung beeinträchtigen – gemeint sind z.B. Dienstleistungen, deren Freizügigkeit bislang derjenigen der Waren um einiges nachstand.
Für Polen gehört die Stärkung der multidimensionalen Sicherheit nicht nur zu den Pflichten eines Staates. Sie stellt ebenfalls eine Investition dar. Hohe Kosten, die heute anfallen, würden sich als recht gering erweisen, wenn als Folge von Unterlassungen bei einem künftigen Krieg bei Weitem kostspieligere Schritte nötig wären.
Wo sehen Sie aktuell den größten Handlungsbedarf in der europäischen Sicherheits- und Wirtschaftspolitik?
Seit Beginn unserer EU-Ratspräsidentschaft betonen wir die Notwendigkeit, bürokratische Belastungen abzubauen. Es ist wichtig, die europäischen Programme flexibler zu machen, statt auf Strafen und Verbote auf ein System der Anreize zu setzen. Deregulierung tut not und wird gleichermaßen den Unternehmen wie der Bevölkerung dienen. Wir arbeiten an verbesserten Unterstützungsmechanismen für unsere Industrie dort, wo es für die Sicherheit und die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU von Bedeutung ist, und wollen aber zugleich für Chancengleichheit innerhalb der EU sorgen. Die Energiepreise müssen gesenkt werden, denn nur dadurch bleiben die gesellschaftliche Akzeptanz der Energiewende sowie die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gesichert.
Eine Schlüsselrolle spielen ehrliche Wettbewerbsbedingungen für die EU-Industrie auf dem globalen Markt. Sie sollten dank einer effizienten Handelspolitik wieder gewährleistet werden. Wichtig wären außerdem verbesserte Einfuhrvorschriften für Waren, die in die EU importiert werden, sowie eine wirksamere Nutzung von Vorteilen bei öffentlichen Vergabeverfahren in der EU.
Der Einheitliche Binnenmarkt muss ausgebaut, Hindernisse für grenzüberschreitende Aktivitäten, insbesondere bei Dienstleistungen, abgebaut werden. Als eine Priorität sehen wir die Umsetzung von Initiativen an, die den Kapitalzugang für entwicklungs- und investitionswillige Unternehmen erleichtern.
Die US-Politik von Präsident Donald Trump verfolgt aktuell eine aggressive Zollpolitik. Wie gut vorbereitet ist die EU auf diese Entwicklung?
Die Europäische Kommission, in deren Verantwortung die Handelspolitik der EU liegt, verfügt über eine Palette von schnell einsetzbaren Instrumenten. Doch sie zielen nicht auf die Entfesselung eines Handelskrieges ab, sondern sollten die US-amerikanische Regierung zur Rücknahme von Zöllen bewegen, die den Verbrauchenden in den USA und in Europa gleichermaßen schaden.
Die EU steht für einen großen und attraktiven Markt, und diesen Umstand sollten wir in den Gesprächen mit den USA nutzen. Im Interesse der EU und der USA liegt angesichts der gespannten geopolitischen Lage eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit statt der Versuche, auf Kosten der Partner ausgewählte Wirtschaftsbereiche zu beleben bzw. zu bevorzugen. Solche Versuche dienen weder den Unternehmen noch den Verbrauchenden, und schon gar nicht dem gegenseitigen Vertrauen, das in der Wirtschaft eine große Rolle spielt – stark fallende Aktienkurse an der Wall Street haben das eindrucksvoll bewiesen.
Welche Maßnahmen sollte die EU ergreifen, um eine Umleitung chinesischer Waren, die von US-Zöllen betroffen sind, auf den europäischen Markt zu verhindern?
Die Europäische Kommission muss bereit sein, um den Binnenmarkt vor unlauterem Wettbewerb zu schützen. Sie muss ihn im ständigen Kontakt mit den Unternehmen beobachten, um auf unlautere Konkurrenzversuche gegebenenfalls schnell zu reagieren. Es darf in der EU kein Preisdumping geben. Bei alldem sind ein ständiger Dialog mit der chinesischen Seite und die Suche nach Lösungen wichtig. Man sollte allerdings keine Angst vor klaren und schnellen Entscheidungen haben. Die EU darf nicht dem Konflikt zwischen Washington und Peking zu Opfer fallen.
Wie kann die EU ihre Handelsbeziehungen diversifizieren, um Abhängigkeiten von bestimmten Exportmärkten zu reduzieren und die wirtschaftliche Resilienz zu stärken?
Seit Jahren plädierte Polen für die Diversifizierung. Man sieht es deutlich am Beispiel der Energieversorgung: Wir haben das erste stationäre LNG-Empfangsterminal an der Ostsee errichtet und den Bau der Baltic Pipeline von Norwegen über Dänemark nach Polen beschlossen, die 2022 in Betrieb genommen wurde. Die Diversifizierung ist ein fester Bestandteil der Sicherheit und die Sicherheit hat ihren Preis – man muss ihn zahlen, man darf ihn nicht scheuen.
Neue globale Handelspartnerschaften sind aktuell für die EU von noch größerer Bedeutung, doch man darf sie nicht um den Preis gesenkter Standards eingehen oder dabei ganze Branchen aufgeben. Man muss immer daran denken, dass die Handelspolitik ein notwendiges Element der Industriepolitik ist. Man sollte sie langfristig gestalten und gut durchdenken. Auch sollten wir uns stärker auf unsere direkte Nachbarschaft konzentrieren, die mit uns zusammenarbeitenden Länder der Östlichen Partnerschaft prioritär behandeln und den EU-Erweiterungsprozess fortführen. Der Beitritt neuer Mitgliedstaaten wie Moldau, die Ukraine und Länder des Westbalkans wird die EU wirtschaftlich stärken.
Welche Initiativen plant Polen, um die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der EU-Wirtschaft zu fördern?
Die Wettbewerbsfähigkeit und die wirtschaftliche Sicherheit gehören zu den Prioritäten der polnischen EU-Ratspräsidentschaft. Wir haben eine Einigung darüber herbeigeführt, dass die Handelspolitik der Umsetzung der Industriepolitik dienen und enger daran geknüpft sein soll.
Der von der Europäische Kommission beschlossene Clean Industrial Deal bestätigt die dringende Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der am stärksten herausgeforderten traditionellen Industrien (Chemieindustrie, Stahlindustrie, Autoindustrie) zu unterstützen. Wir freuen uns, dass der von der Europäischen Kommission vorgelegte Kompass für Wettbewerbsfähigkeit unsere vorrangige Herangehensweise an das Problem der hohen und unvorhersehbaren Energiepreise, die Notwendigkeit der Vollendung des Binnenmarktes, die Verringerung des Verwaltungsaufwands für Unternehmen und eine stärkere Berücksichtigung der energieintensiven Industrien widerspiegelt.
Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft zu stärken, ist außerdem die Aktivierung von Finanzkapital notwendig. Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Spar- und Investitionsunion dürfte dazu beitragen, den privaten Sektor in die Finanzierung wichtiger Investitionen, u.a. in die Verteidigung, einzubinden. Wir haben Unterstützung für die Warschauer Erklärung zur Forderung nach einer unabhängigen und effizienten Finanzierung von Forschung und Innovation erhalten.
Die Europäische Kommission hat im Einklang mit unseren Erwartungen zahlreiche Omnibus-Vereinfachungspakete geplant, u. a. zu den Themen Berichtpflichten, Nachhaltigkeit und Investitionen. Wir arbeiten an einer Vereinfachung der Verpflichtungen und der Berichterstattung bei der Umsetzung der Grenzausgleichsabgabe auf Emissionen (CBAM), einschließlich einer Verringerung der Anzahl der unter den Mechanismus fallenden Unternehmen, wobei das Ziel des Schutzes der europäischen Industrie vor unlauterem Wettbewerb beibehalten wird. Wir haben uns auf ein Standardformat für zusätzliche Steuererklärungen und den automatischen Austausch von Steuerinformationen zwischen den Ländern geeinigt, was weniger Bürokratie und eine gerechtere Besteuerung innerhalb der EU bedeutet.
Mit großem Nachdruck diskutierten wir über den europäischen einheitlichen Binnenmarkt. Wir haben ein Schwarzbuch über fortbestehende Hindernisse im EU-Binnenmarkt vorgelegt, damit die Europäische Kommission die dort enthaltenen Schlussfolgerungen im Vorfeld der Veröffentlichung der Binnenmarktstrategie im Juni 2025 berücksichtigen kann, die sich mit der Erleichterung des grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehrs, der Beschleunigung von Verwaltungsverfahren und dem Abbau von Belastungen befassen soll.
All das sind Elemente, die, wenn sie effizient umgesetzt werden, die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft verbessern werden. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass dies nur der Anfang eines Prozesses ist, der in den kommenden Monaten und Jahren fortgesetzt werden sollte.
Inwieweit will Polen seine Ratspräsidentschaft nutzen, um die Integration der Nachbarländer wie die Westbalkan-Staaten, Moldau oder die Ukraine in den EU-Binnenmarkt zu unterstützen? Welche Rolle kann Polen dabei einnehmen?
Die Erweiterung steht weiterhin ganz oben auf der politischen Agenda der EU und ist eine der Prioritäten der polnischen EU-Ratspräsidentschaft. Ziel der polnischen Ratspräsidentschaft ist es, den Erweiterungsprozess insgesamt voranzubringen, sowohl in Bezug auf die Ukraine und Moldau als auch die Länder des westlichen Balkans.
Die Beitrittskandidaten müssen sich, wenn sie der EU wirklich beitreten wollen, uneingeschränkt zu den europäischen Grundwerten bekennen und der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zustimmen. Gemeinsam mit Albanien organisierte Polen eine Regierungskonferenz am Rande einer Sitzung des Rates für Auswärtige Angelegenheiten. Die Eröffnung des nächsten Verhandlungspakets stellt für Albanien einen großen Schritt nach vorn dar. Dank der Bemühungen des polnischen Ratsvorsitzes wurde ein Instrument in Höhe von 1,9 Milliarden Euro zur Unterstützung von Reformen und Wirtschaftswachstum in der Republik Moldau angenommen. Wir rechnen mit weiteren Fortschritten im Beitrittsprozess der Ukraine, der Republik Moldau und der Länder des westlichen Balkans, hoffentlich noch während der polnischen EU-Ratspräsidentschaft.
Wenn Sie jungen Menschen in Europa eine Botschaft mitgeben dürften: Was würden Sie ihnen sagen?
Habt Mut, fürchtet keine Niederlagen und seid stolz auf die europäischen Werte. Nur durch Versuch und Irrtum sind wir imstande, innovativ zu bleiben und Lösungen zu gestalten, die nicht allein uns, unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft dienen werden, sondern auch das Potential haben, das Leben zahlreicher Menschen weltweit besser zu machen.
Im Rahmen des “Europäischen Dialogs” lud der WPCD am 29. April 2025 anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft Polens zu einer Veranstaltung in die Botschaft der Republik Polen ein, bei der S.E. Jan Tombiński einen Impulsvortrag hielt.
Hier geht’s zum Rückblick der Veranstaltung.