23.09.2025 |  „Sicherheit hat viele Dimensionen – und jede einzelne ist heute strategisch relevant“

Im exklusiven Interview mit dem WPCD spricht Prof. Dr. Dr. h.c. Otmar Issing über die immense Belastung für Politik und Wirtschaft durch globale Krisen. Prof. Issing kritisiert die Vernachlässigung des Mittelstands und erklärt, warum verlässliche Rahmenbedingungen jetzt wichtiger sind denn je. Der WPCD führte das Interview mit Prof. Issing anlässlich seiner Auszeichnung mit dem WPCD-Preis zur Sozialen Marktwirtschaft am 22. September 2025.

“Wie selten zuvor sind Politik und Wirtschaft mit einer solchen Vielzahl von Schocks konfrontiert.”

Herr Professor Issing, Sie haben die Wirtschaftspolitik Europas über Jahrzehnte beobachtet und mitgestaltet. Wenn Sie auf die aktuelle Lage schauen – was macht die aktuelle Situation aus Ihrer Sicht so besonders?

Wie selten zuvor sind Politik und Wirtschaft mit einer solchen Vielzahl von Schocks konfrontiert. Diese reichen von der Demographie, dem Klimawandel bis zu Kriegen und anderen bedrohlichen geopolitischen Auseinandersetzungen. In dieser Zeit bedarf es rascher Reaktionen, aber auch einer langfristigen Orientierung.

In der Pandemie, während der Energiekrise und in einigen aktuellen Politikfeldern greift der Staat stark in Märkte ein. Welche Eingriffe halten Sie für gerechtfertigt? In welchen Bereichen sollte man eher dem Markt vertrauen und wo überschreitet staatliches Handeln die Grenze zur „staatlichen Hybris“?

Auf diese komplexe Frage gibt es keine einfache Antwort. Es kommt zuvorderst darauf an, dass sich die Politik der vielfältigen Herausforderungen voll bewusst ist und nicht der Illusion erliegt, der Staat verfüge über überlegenes Wissen, alles nach seinen Präferenzen regeln zu können.

Der Mittelstand gilt als Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Wird er in der aktuellen Wirtschaftspolitik ausreichend berücksichtigt? Subventionen für Großprojekte wie Chip- oder Batteriefabriken verschlingen Milliarden. Läuft der Mittelstand Gefahr, zwischen den Großen unterzugehen?

Im Wettlauf um Subventionen für Großprojekte fühlt sich der Mittelstand, das Herz der deutschen Wirtschaft, zu Recht vernachlässigt. Überregulierung, ausufernde Bürokratie und hohe Steuern bedrohen gerade kleine und mittlere Unternehmen in ihrer Existenz.

Welche politischen Maßnahmen wären für Sie entscheidend, damit der Mittelstand und seine Hidden Champions auch in 20 Jahren noch global erfolgreich sind?

Zentral sind Entlastungen auf den eben genannten Gebieten. Verlässliche und wachstumsfördernde Rahmenbedingungen sind unentbehrliche Voraussetzungen für erfolgreiches, nachhaltiges Wirtschaften.

Angesichts des Wettbewerbs mit den USA und China diskutiert die EU über eine aktivere Industriepolitik und gemeinsame Schulden. Sind solche Maßnahmen ein notwendiger Schritt zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Europas – oder riskieren sie einen Subventions- und Verschuldungswettlauf?

Das im Vorfeld viel gerühmte Next Generation Programm war der konkrete Test auf die positive Wirkung massiver gemeinschaftlicher Schulden der EU. Das mehr als bescheidene Ergebnis spricht nicht für eine Wiederholung dieser Politik – unter welchem Vorzeichen auch immer.

Sie gelten als einer der Väter der Europäischen Währungsunion. Die Eurozone hat seit ihrer Gründung zahlreiche Krisen durchlebt. Wie stabil ist sie aus Ihrer Sicht heute – und welche Risiken sehen Sie mittelfristig?

Die Europäische Währungsunion hat in der Tat eine Reihe schwerer Krisen überstanden. Das größte Risiko für einen nachhaltigen Erfolg und den Zusammenhalt stellt die hohe Verschuldung in einigen Mitgliedsländern dar.

Was stimmt Sie trotz aller Krisen optimistisch, wenn Sie an die Zukunft Europas denken?

Bedrohungen von Außen haben für die Mitgliedstaaten in der Vergangenheit immer das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit gestärkt. Die jetzige ernste Lage sollte allen Anlass für eine Wiederholung dieser Erfahrung geben. Die gemeinsame Unterstützung der Ukraine kann als ein gelungenes Anzeichen dafür gelten.

Wenn Sie einen zentralen Rat an die deutsche Bundesregierung geben könnten: Was wäre Ihr wichtigster Hinweis für die kommenden Jahre?

Am Anfang jeder auf eine erfolgreiche Zukunft ausgerichteten Politik muss eine schonungslose Analyse der wichtigsten Problemfelder stehen. Daraus ergibt sich dann zwangsläufig der Handlungsbedarf. Erfahrungsgemäß sollten Entscheidungen, die für die Bürger harte Einschnitte mit sich bringen, am Anfang einer Legislaturperiode getroffen werden.

Sie erhalten in diesem Jahr die WPCD-Auszeichnung „Preis zur Sozialen Marktwirtschaft“. Welche Bedeutung hat das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft Ihrer Meinung nach heute noch – sowohl für Deutschland als auch für Europa – und welche Lehren lassen sich daraus für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Wirtschaftspolitik ziehen?

Dieser Preis bedeutet mir sehr viel. Er ehrt meinen jahrzehntelangen Einsatz für die Soziale Marktwirtschaft und unser demokratisches, rechtsstaatliches System.

Über Prof. Dr. Otmar Issing

Prof. Dr. Otmar Issing zählt zu den führenden deutschen Ökonomen und Persönlichkeiten der europäischen Geld- und Währungspolitik. Er gilt als einer der Architekten der Europäischen Währungsunion. Als erster Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank war er zentral an der Einführung des Euro beteiligt und prägte mit der Entwicklung der Zwei-Säulen-Strategie die geldpolitische Ausrichtung der EZB nachhaltig.

Prof. Dr. Issing setzt sich bis heute konsequent für die Preisniveaustabilität und das Vertrauen in die gemeinsame Währung ein – Prinzipien, die bis heute das Fundament der europäischen Geldpolitik bilden. Seine wissenschaftlichen und beratenden Tätigkeiten, etwa im Sachverständigenrat und als Präsident des Center for Financial Studies, haben die Grundlagen der europäischen Wirtschaftsordnung wesentlich geprägt. Mit seinem klaren Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft steht Prof. Dr. Issing für eine Wirtschaftspolitik, die Verantwortung, Nachhaltigkeit und das Gemeinwohl in den Mittelpunkt rückt.

Der WPCD ehrte Prof. Dr. Issing für seine fachliche Exzellenz und für sein Lebenswerk mit dem „Preis zur Sozialen Marktwirtschaft“. Mit dieser Auszeichnung würdigt der WPCD Persönlichkeiten, die sich um die Werte der Sozialen Marktwirtschaft verdient gemacht haben. Die feierliche Preisverleihung fand am 22. September 2025 in der Hessischen Landesvertretung in Berlin statt.